Donnerstag, 23.2.1995: Altstadt und Swayambunath
Mit dem Bus geht es in die Altstadt, wo wir zunächst den Kumari-Palast besuchen. Im Innenhof des Gebäudes schauen wir an den Ziegeln des Gemäuers hinauf zu den geschnitzten Rahmen der vielen Fenster, deren Höhlen mit Flechtwerk vergittert sind, und warten, ob die jungfräuliche Göttin Kumari Lust hat, eines der Fenster zu öffnen. Dieses Kind wohnt hier mit seiner Familie, bis es die erste Regelblutung bekommt. Dann verliert es seinen Status als Göttin und muss einer Nachfolgerin Platz machen. - Im Regen lassen wir unter dem Dach der großen Versammlungshalle Kastamandap das lebhafte Treiben der Straße an uns vorüberziehen, Fußgänger, Fahrrad- und Rikschafahrer. Im Restaurant liest uns der Reiseleiter vor: Shakti ist das weibliche Prinzip, die aktive Kraft, d. h. alle Energien der Götter zusammen genommen. Sie hat gegen den Büffeldämon gekämpft, in den sich ein Yogi (oder Löwe oder schwer bewehrter Held oder Elefant) verwandelt hatte. Das Amrita oder Soma ist das Getränk, das Kraft verleiht. In Nepal wird die Göttin Shakti dargestellt als Schwarze Bhairav (Betonung auf der zweiten Silbe), Verkörperung von Shivas Frau Parvati. Das Standbild der Schwarzen Bhairav steht außerhalb des Nasal Chowk, des Platzes für Feste und Krönungsfeiern". (Chowk ist ein hinduistischer Innenhof). Von oben hat man eine gute Aussicht auf Kathmandu. Am Ausgang steht das Standbild eines Löwenmensch-Gottes, der einen Dämon zerreißt. Dämonen sind Heilige, die mit zuviel Energie ausgestattet sind. Bodi-Bäume sind Buddha-Bäume. Einer davon ist der Banyam; er bildet Luftwurzeln. - Auf dem Programm stehen außerdem: Asian Market, Jana-Bahal-Tempel des Blauen Bhairav, Töpfermarkt, Palastplatz mit dem alten Königspalast, Taleju-Tempel, Jagannath-Tempel, Shiva-Parvati-Tempel, Durbar Suare.
Am Nachmittag spazieren wir zum Stupa von Swayambunath, einem der wichtigsten buddhistischen Heiligtümer des Kathmandu-Tals. Die steile Treppe hinauf zum Stupa besteht aus 135 Stufen und scheint, wenn man unten steht, bis in den Himmel zu führen. Gläubige, Touristen und kleine Händler bevölkern sie. Ein auf den Stufen sitzender Künstler meißelt gerade ein Gebet in einen schön polierten Stein. - Der Legende nach ist Swayambunath wie folgt entstanden: Ein Lotus blühte im See. Manjussi, ein Buddha (Bodisatra) schlug eine Schneise, damit das Wasser abfließen konnte. Diese Schneise ist die Schlucht, durch die das Kathmandu-Tal entwässert wurde und immer noch wird. Aus dem Lotus wurde ein Gott. Swayambunath bedeutet blühender Lotus" oder der aus sich selbst entstandene Gott". - Der Stupa verkörpert die Elemente, von unten nach oben gesehen Erde, Wasser, Feuer, Luft. Oben sitzt der Punkt", der in die vier Himmelsrichtungen weist und alles vereint. Unten ist pro Himmelsrichtung ein Buddha oder sein weibliches Pendant dargestellt, jeder in einer anderen Farbe. Unter der vergitterten Buddha-Nische befindet sich das jeweilige Reittier des Buddhas (z. B. Elefant oder Pfau). - Auf dem Gelände befindet sich ein tibetanisches buddhistisches Kloster, vor dem sich gerade ein paar Mönche und Kindernovizen aufhalten. Später folge ich einigen Neugierigen in das Innere und kann durch eine angelehnte Tür einen Blick in den hintersten Raum werfen, in dem ein kindlicher Mönch eine Zeremonie alter Männer leitet. In dem Kind erkenne ich den Real Buddha wieder, den ich kurz davor als Hauptdarsteller in dem gleichnamigen Dokumentarfilm gesehen habe. Ich erfahre, dass er tatsächlich gerade für fünf Tage in diesem Kloster ist. - Auf einer Seitentreppe brauchen wir nur teilweise abzusteigen. Der Bus wartet.