Sonntag, 19.2.1995: Zweiter Trekking-Tag

 

Morgens liegt auf dem Gras und den Außenzelten Raureif. Auf unserer Höhe von etwa 2600 m haben wir -4 bis +6°C. Die Nacht habe ich überstanden, indem ich meine Plastiktrinkflasche in der Küche mit heißem Wasser füllen ließ und sie als Wärmflasche für die Füße benutzte und außerdem voll angezogen in den warmen Schlafsack stieg. Morgens habe ich Kopfweh, leichtes Nasenbluten und eine leichte Regelblutung, obwohl die Wechseljahre schon lange hinter mir liegen; Vorboten der Höhenkrankheit, wohl durch den zu schnellen Höhenwechsel bedingt. Beim Wandern in den Alpen mit allmählichem Aufstieg bis auf über 3000 m habe ich diese Symptome nie kennengelernt. Man bringt uns Tee ans Zelt, später warmes Wasser in einer Schüssel und warmes Zahnputzwasser in einem Becher. Das Waschen in dem kleinen Zelt lässt sich nur mit ungewohnten Verrenkungen bewerkstelligen. - Wir wandern durch Dörfer, im höheren Bereich durch dichte Wälder aus Rhododendron, Edelfichte und Stecheiche. Barfüßig und frierend, die Kinder mit triefenden Nasen, stehen am Morgen die Dorfbewohner, die nicht einmal einen Wollpullover besitzen, um ein Feuer herum. In der Nacht haben sie sich beim Schlafen in dem einzigen Raum ihres Hauses gegenseitig gewärmt. - Mittagsrast auf einer Wasserbüffel- und Schafweide. Oben ist es steil, unwegsam und waldig. Die Dorfbewohner lachen sich halb tot über unseren Aufzug, unsere schweren Bergstiefel und meine beiden Stöcke, die ich mir vor der Reise wegen einer Knieentzündung zugelegt habe. Verunsichert durch die nepalesischen Aufpasser, die unsere Gruppe begleiten und immer dicht vor mir gehen, und durch die ungewohnten Stöcke, die mir im Wege sind, stolpere ich einmal tatsächlich und falle. Die hiesigen Bergbewohner dagegen, jung wie alt, laufen wie die Gämsen die Berge auf und ab, barfüßig oder nur mit Plastikstrandlatschen beschuht. Unterwegs sehen wir wie immer viele Lasten tragende Menschen. Hier tragen sie u. a. Bau- und Feuerholz. Die frischen Blätter der Stecheiche werden als Grünfutter verwendet, die trockenen Blätter als Streu für das Vieh. Reis wird in Säcken transportiert. Alle Lasten tragen sie mit Hilfe eines breiten Stirnbandes. Wir begegnen Mädchen und jungen Frauen, die gerade bei ihren großen Holzbündeln rasten. Ich versuche umsonst, eines davon anzuheben. Diese Menschen sind halb so schwer wie ich, aber doppelt so stark. In den Sal-Wäldern wächst der Eisenholzbaum (Sal-Baum, Shorea robusta), der ein Hartholz liefert, aus dem Kanus und Tempelschnitzereien hergestellt werden. Die Blätter verwendet man als Teller. - Unterwegs sehen wir wieder einige Stupen (Stupas). Am Weg werden manchmal Häuser gebaut. Die Sprache klingt für meine Ohren vom Singsang her chinesisch.

Im zweiten Camp, bei Kalopani, bewohne ich ein Zelt mit Blick auf den Sonnenuntergang an den weißen Himalajabergen Gauri Shankar, Numbur und Khatang - eine lange, von der untergehenden Sonne rosa gefärbte Bergkette, noch schöner als bei uns das Alpenglühen. Hier auf 2800 m ist es noch kälter. Um 19 Uhr haben wir im Esszelt 5,5°C. Wir sind wieder alle dick eingemummelt. Unser Menü besteht aus frisch gerösteten Popcorns, wässeriger Suppe, Spaghetti-Gemüse mit ein paar Fleischschnipseln, „Pizza" aus Toast mit Gemüse (Bohnen, Zwiebeln u. a., auch mit Resten der Baked beans vom Mittagessen), in schwimmendem Fett gebackenen Kartoffeln, Banana pie aus Mürbeteig (eine Art gedeckter Obstkuchen). - Hier will ich einmal die Küchenutensilien und Mahlzeiten dieses Trecks beschreiben: Jeder bekommt ein Blechbesteck, bestehend aus Messer, Gabel und Suppenlöffel. Ein Teelöffel pro Person steckt in der Zuckerschale. Pro Person gibt es einen großen Blechteller und eine Schale (für Suppe, Cornflakes, Porridge oder für das Müsli aus Haferflocken mit ein paar Kokosnussschnipseln). Zum Frühstück gibt es Brot, zwei Sorten Marmelade, Erdnussbutter, Cornflakes, außerdem abwechselnd Porridge, „Müsli", Eierkuchen, Rührei. Die Getränke stehen in großen Blechkannen auf dem Tisch: Heiße Milch, dünner Tee, heißes Wasser für das Kaffee- und Kakaopulver. Abendessen und warmes Frühstück werden in großen Blechschüsseln mit Deckel auf den Tisch gebracht, auf dem immer Salz, Chilisoße und Ketchup stehen. Aus dem Zelt des Personals klingt abends vor dem Essen das Trommeln und Singen des Hilfsjungen der Guides. - Zu dieser zweiten Zeltnacht hole ich mir wieder heißes Wasser für meine provisorische Wärmflasche, behalte die warmen Socken an und ziehe mir eine weitere Kleidungshülle über.

 


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